Liebe Kerstin, danke dass du dir die Zeit genommen hast für unser Interview. Ich habe dich das erste Mal in der Google Zukunftswerkstadt kennengelernt, wo es um das Thema “Empowerment - Was ich wirklich will!” ging. Deine Methoden haben mich tatsächlich inspiriert. Kannst du dich kurz vorstellen und was “Creative Facilitation” bedeutet?
 
Ich bin Kulturwissenschaftlerin und habe damals im Studium Kreatives Schreiben und Bildende Kunst studiert. Kreativität war schon als Kind und Jugendliche ein wichtiges Motiv in meinem Leben und ist es bis heute. Nach dem Studium habe ich zunächst als Autorin geschrieben, aber als das mit Buchveröffentlichungen nicht so klappte und ich nicht nur von Stipendien und Literatur-Preisen leben wollte, begann ich mit Kreativ-Schreiben-Workshops, das war 2003. Die Arbeit mit Gruppen machte mir Spaß. Ich hatte seit meinem 23sten Lebensjahr selbst an vielen Seminaren teilgenommen.

Innere Orientierung, Meditation sind Themen, die mich seitdem begleiten und so entwickelte ich über die Jahre einen eigenen Stil in der Arbeit mit Gruppen und den Themen Kreativität, Selbstklärung, Innenwendung. Ich verband kontemplative Praktiken mit kreativem Ausdruck. Creative Facilitation heißt: Ich schaffe Möglichkeits- und Experimentierräume, in denen es Menschen leichter fällt, neue Erfahrungen zu machen und ihre Kreativität auszuprobieren. Dabei entdecken sie sich selbst – auch im Kontakt mit anderen Leuten – neu und anders und stärken ihr schöpferisches und zukünftiges Selbst.
Außerdem bin ich immer auch künstlerisch tätig, momentan ist das Schreiben eher im Hintergrund. Ich habe eine tägliche künstelrische Praxis, die ich Every Day Art nenne.
 
Was hat dich dazu bewegt mehr Kreativität in unsere Gesellschaft zu bringen und warum ist es deiner Meinung so wichtig?
 
Ich folge seit meinem 23sten Lebensjahr konsequent meinen Impulsen, dem, was mich im Innersten antreibt. Und dazu gehörte immer schon Kreativität. Das bin ich. Das macht mich aus. Und was kann es besseres geben, als das, was einen ausmacht, in die Welt zu geben. UND: ich spüre eine große Sehnsucht in vielen Menschen nach kreativem Ausdruck, Lebendigkeit,  Schöpferkraft, ich glaube, das wirkt in jedem von uns. Jeder ist im Grunde ein kreatives Wesen, ich halte es mit Beuys, der sagte, jeder Mensch sei ein Künstler.
Ich glaube, dass Kreativität heilsam ist. Was ausgedrückt wird, ist draußen. Belebt. Macht glücklich. Befeuert Selbstwirksamkeit.
 
Kennst du es wenn Teilnehmer dir erzählen, dass sie einfach unglücklich sind ohne zu wissen warum, da sie ja im Prinzip alles haben. Einen guten Job, Sicherheit, eine glückliche Beziehung. Ein Punkt an dem ich auch eine lange Zeit stand. Wie schaffst du es herauszukitzeln was die Person eigentlich im Leben wirklich will?
 
Mein Ansatz ist: Die Menschen so gut wie eben möglich ins JETZT zu bringen. Viele von uns sind ja ständig mit Planen beschäftigt, was sein soll, etc.. Dieser Spruch trifft es ganz gut:
Die beste Weise, sich um die Zukunft zu kümmern, besteht darin, sich sorgsam der Gegenwart zuzuwenden. Thich Nhat Hanh
 
Es geht um ein Sich-Rückverbinden, Kontakt aufnehmen zu meinem Kern, wie geht es mir JETZT? Wenn ich da andogge, wird meist klar, was das Thema ist. Ich formuliere die Frage oft um: „Was will ich wirklich?“ löst oft Stress aus. Was ist mir gerade wirklich wichtig? Was beschäftigt mich? Das ist eine entspannte Perspektive für viele. Daran „arbeite“ ich dann mit den Menschen. Das ist eine wichtige Fährte.
 
Viele meiner Community fragen mich, wie man es schafft Kreativität abzurufen wann immer sie möchten. Ich kenne das, dass man etwas Neues schaffen will aber vor einem leeren Blatt sitzt. Was macht man in so einer Situation?
 
Da gibt es diverse Kreativitätstechniken, eine sehr wirkungsvolle: Das Free Writing.
Schau auch mal auf meiner Website unter Every Day Art, da steht wie ich es mache in einem längeren Text.
Es hat für mich auch viel mit regelmäßiger Praxis zu tun. Kreative Muskeln immer wieder zu trainieren. Ich erlebe Kreativität nicht unbedingt als abrufbar, aber als trainierbar. Ergebnisse kann ich nicht erzwingen, aber ich kann mich regelmäßig zur Verfügung stellen und machen, und wieder, anfangen, verwerfen, anfangen, zerstören, mutig sein, wieder anfangen, machen, in die Unsicherheit hinein. Kreativität bedeutet alle Sicherheiten loszulassen (Erich Fromm).

Bei mir war es so, dass sich die Art Dance Love Idee vom Anfangsstadium bis jetzt in eine ganz andere Richtung entwickelt hat. Ursprünglich habe ich an Art und Dance Retreats gedacht, die ich in Lissabon und Umgebung organisieren will. Nicht, dass ich meine Ideen begraben habe, aber ich habe angefangen mir Prioritäten zu setzen. Was rätst du jemanden, wenn er so viele Ideen hat aber nicht weiß wie er sie ordnen soll? Wie gehst du da vor?
 
Zum einen würde ich raten, sich mit dem Thema Scanner Persönlichkeit zu beschäftigen. Das sind Leute mit unglaublich vielen Ideen und Interessen, lies mal dazu! Und zum anderen ist das Leben natürlich seinem Wesen nach prozesshaft. Es mäandert so vor sich hin. Ich kann keine generelle Regel sagen, wie ich da vorgehen würde. Das ist wirklich individuelle Coaching-Arbeit.
 
Würdest du sagen, dass du ein kreatives Leben führst? Was gehört für dich dazu, hast du einen besonderen Tagesablauf mit kreativen Pausen. Wie sieht dein Alltag aus?
           
Mein Alltag ist stark durch mein Mutter-Sein geprägt. Ich habe 2 Kinder, 6 und 12. Der Tagesablauf: 6.30 aufstehen. 7.30 sind die Kinder los in die Schule.
Home Office, Home Atelier – oder wenn ich Trainings habe dann Trainings irgendwo draußen. In diesem Jahr reise ich viel, ich habe also keinen ganz regelmäßigen Wochenrhythmus. Zur Zeit habe ich meistens 2 Seminartage pro Woche.
Wenn ich im Home Office bin, ist ab 13.30 Mittagessen zusammen. Nachmittags oft Family-Kram. Abendprogramm. Every Day Art mache ich morgens oder abends. Ich weiß nicht, ob ich ein kreatives Leben führe. Auch ich erlebe viel Korsett, Zeitdruck, Vereinbarkeit von Familie und Job ist ein Riesenthema, Komplexität, die mich zuweilen überfordert UND ich sorge für Kreativität in all dem, ich male, meine Arbeit finde ich kreativ, ich koche kreativ. Draußen sein. Gärtnern, Freundschaften. Kreativität hat auf jeden Fall einen festen Platz in meinem Leben.
 
Du hast mich in deinem Seminar nach einen besonderen Gegenstand gefragt und warum dieser so besonders für mein Leben ist. Was wäre deiner?
 
Meine Füße. Als Symbol für Wurzeln und Körper. Verkörperung und Bodenständigkeit ist mir wichtig, weil das die Basis ist für VERBINDUNG, mit mir selbst, die Voraussetzung für echten Kontakt zu anderen, zur Erde. Ich tanze sehr gern, ich liebe Bewegung. Daher die Füße. Und die Erde liegt mir am Herzen, und meine Füße stellen den Link her.
Ohne Füße kann ich nichts ins Leben bringen und ich habe Lust, richtig viel ins Leben zu bugsieren.
 
Was löst diese Übung bei uns aus, wenn wir jemanden den wir nicht kennen, unsere Geschichte zu dem Gegenstand erzählen?

Erfahrungsgemäß entsteht eine recht hohe Intensität, weil ich etwas teile, das mir echt wichtig ist. Und wenn dann noch jemand aufmerksam zuhört – bäm! Die Atmosphäre im Raum wird dicht, lebendig, warm, menschlich.
 
Wie würde für dich eine perfekte Welt aussehen?

Perfektion ist für mich keine Kategorie, in der ich denke. Ich würde eher von einer schöneren, verbundeneren Welt sprechen, die ich mir vorstellen kann und wünsche. Eine, in der Menschen gut mit sich selbst und ihrem Potenzial in Kontakt sind, mit anderen und auch mit der Erde. Das ist eine sehr schöne Vorstellung für mich!
 
Wo siehst du dich selbst in 10 Jahren?

Gelassener, heiterer, zunehmend altersweise, immer wieder und immer noch kreativ, malend, ein Buch hab ich bis dahin veröffentlicht, tanzend, mit Großgruppen arbeitend zum Thema Kreativität, Embodiment, Innenwendung und Innovation mit der Intention von Heilung (persönlich, kollektiv, die Erde betreffend), die Aktivistin in mir ist in 10 Jahren aktiver als heute, glaube ich, weil die Kinder größer sind und ich mehr Freiräume haben werde.

Danke für deine Zeit, ich bin ein großer Fan von Dir und deiner Arbeit :)

Alle Informationen zu Kerstin Döring findet ihr auch auf Ihrer Webseite: kerstindoering.com

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